Pfingsten: Den Blick voller Liebe…
Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 11, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 27. Mai 2020)!
Pfingsten: Den Blick voller Liebe und die Beine auf dem Boden
Liebe Leserin, lieber Leser,
ich erinnere mich an mein Pastoralpraktikum 2004 in Tübingen. Dort habe ich einmal an einem besonderen Gottesdienst teilgenommen. Wo genau, kann ich nicht mehr sagen. Aber an die Feier erinnere ich mich noch gut, weil ich Vergleichbares bis dahin selten erlebt hatte. Denn kaum angekommen, waren alle schon von etwas „erfasst“? Alle, außer mir. – Vom Heiligen Geist? Ich weiß es nicht. Jedenfalls wurden dort, sitzend oder stehend, die Körper hin und her gewiegt, die Arme erhoben, laut oder leise durch- und ineinander geredet bzw. gesungen. Und ich? Ich versuchte auszuharren und auszuhalten. Doch nach maximal 10 Minuten hatte ich so einen Kloß im Bauch, dass ich nicht anders konnte als aufzustehen und zu gehen.
Mich trieb die Frage hinaus, was das überhaupt für ein Geist sein sollte, von dem hier alle anderen – so schien es – ergriffen waren? Und was sollte ich anfangen mit dem, was ich da erlebte: Menschen, die in eine Ekstase geraten waren und »in Zungen sprachen« als Nachweis dafür, dass es wirklich der Heilige Geist war, der sich ihrer bemächtigt hatte? Denn in der Bibel heißt es ja, dass nach dem Pfingstereignis Gottes große Taten in allen Sprachen verkündet wurden. Leider verstand ich gar nichts von dem, was die Ergriffenen da „redeten“.
Bis heute fehlt mir eine solche „Erfahrung“. Allerdings weiß ich auch, dass mir das nicht wirklich wichtig ist. Warum? Zum einen, weil „prophetisches Reden … ein Ende (hat), Zungenrede verstummt (und) Erkenntnis vergeht“, um es mit Paulus zu sagen (1 Korinther 13,8). Zum anderen glaube ich nicht, dass solch eine Erfahrung die einzige Möglichkeit ist, dem Heiligen Geist zu begegnen und sich ergreifen zu lassen. Ja mehr noch: Das biblische Pfingstereignis (Apostelgeschichte = Apg / Kapitel 2), ist gar keine Erzählung darüber, dass da jemand vor Freude taumelte bzw. sich in einem Zustand des Rausches befand.
Dieses Missverständnis kann sich jedoch mit der Himmelfahrt Jesu anbahnen: Die Apostelgeschichte erzählt, wie Jesus als Auferstandener den Jünger⚹innen den Heiligen Geist ankündigt und dann auf einer Wolke in den Himmel auffährt. Und genau da hinein trifft dann die für mich zentrale Frage: „Was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“ (Apg 1,11). Ihre Botschaft ist also: Der Geist lässt sich nicht herbeischauen oder – in welcher Form auch immer – betend erzwingen! Denn Pfingsten findet dort statt, wo wir es vielleicht nicht erwarten. Zum Beispiel im Alltag. Dort, wo das Leben spielt.
Pfingsten hat also wenig mit Höhenflügen zu tun. Sondern damit, liebevoll anzuschauen. Mit den Beinen auf dem Boden, wie hier im Bild dargestellt. Oder besser – angeschaut zu werden.
Was damit gemeint ist, macht Johannes in seiner Pfingsterzählung deutlich: Nach Jesu Tod schließen sich die Jünger⚹innen ängstlich ein. Es kommen aber keine Feuerzungen. Stattdessen tritt der Auferstandene in ihre Mitte, wünscht Ihnen Frieden und zeigt seine Wunden. Er schaut sie an. Sie schauen ihn an und bekommen ein weiteres Mal Frieden zugesagt. Dann erst werden sie zu seinen Gesandten, indem er sie anhaucht und sagt: »Empfangt den Heiligen Geist!«
Pfingsten braucht also kein großes Brausen. Es ist eher still. Es bedeutet an die Wurzel zu gehen und sich auf die Wirklichkeit einzulassen: Auf die Wahrheit des Lebens in seiner Gänze. Also auch mit all seiner Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit und Verwundbarkeit. Und eine vom Geist erfüllte Kirche wäre demnach eine, in deren Mitte genau dafür Platz ist. Sie wäre eine Gemeinschaft, die bereit ist, auch darin die Schönheit und das Geheimnis wahrer Lebendigkeit zu entdecken. Um so zu sein, bräuchte sie Liebe als Fundament. Denn es ist der Blick Gottes, der Auferstehung ermöglicht. Und es ist der Heilige Geist, der uns mit diesem liebevollen Blick auf die Dinge verbindet.
Ohne diese Liebe wäre Pfingsten nur ein Event das berauscht, etwas Abgehobenes. Zudem weht der Geist, wo er will. Wir können nicht über ihn verfügen. Was wir aber können, ist Raum schaffen. Raum schaffen bedeutet loslassen: ▪ das Rechthabenwollen in Gesprächen (und stattdessen von Herzen zu sprechen); ▪ das Entweder-Oder in Konflikten (und stattdessen die Suche nach einem dritten Weg jenseits von Gewinnen oder Verlieren); ▪ die Kontrolle, zum Beispiel über die eigenen Kinder (und sie erwachsen werden zu lassen); ▪ das »So-war-es-schon-immer« (aufgeben zugunsten unbekannter Wege und Lösungen); ▪ die Schuldscheine, mit denen wir durch das Leben gehen: »Nur wenn XY dies oder jenes tut« (zerreißen und stattdessen das Mögliche und das Neue zu sehen, das aus dem Dunkel von Wunden erwachsen kann).
So gesehen, können wir dankbar sein für die Momente im Leben, in denen wir bereits das Wehen dieses Heiligen Geistes erleben durften. Und ich bin mir sicher, dass wir sie immer dann wieder erleben dürfen, wenn wir den Mut aufbringen loszulassen. Das haben wir heute nötiger denn je.
In diesem Sinn: Bitte komm, heiliger Geist! Schenke uns Bodenhaftung und verbinde uns in deiner Liebe!
Raimund Miller, Kurseelsorger