„Ich wär ganz gern perfekt!“
Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 14, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 07. Juli 2021)!
„Ich wär ganz gern perfekt!“
Liebe Leserin, lieber Leser,
manchen merkt man‘s an, dass sie‘s gern wären, gell? Sie kennen solche Leute? Kennen ‘s möglicherweis auch ein bisschen von sich selber? Perfekt dastehen vor den andern und vor sich selber, praktisch unangreifbar sein: das gibt doch ein tolles Gefühl von Überlegenheit! Zwar heißt es „Nobody is perfect“ und „Jeder hat Schwächen und Fehler“. Aber vielleicht ist das nur bequemes Gerede? Man muss sich halt anstrengen, ein wenig zusammenreißen, damit’s 100%ig wird, oder?
Ziel 100 % kostet 150 % Aufwand…
… 150% Einsatz, sagen die Fachleute aus der psychosozialen Ecke. Na, das weiß man eigentlich auch selbst. Von den Ausnahmefällen, wo’s wirklich nötig ist, 100% anzustreben: bei Prüfungen oder Bewerbungen o.ä. Da ist man hinterher entsprechend erschöpft! Ebenso weiß der gesunde Menschenverstand, dass auch mit noch so viel Mühe sich manches nicht erreichen und mancher Fehler nicht vermeiden lässt. Zugespitzt gefragt: Wie, wenn genau das ‘ne Macke wär, perfekt sein zu wollen? Dann hätten die 150%igen ‘nen Sprung in der Schüssel – ?!
Hier ‘ne hübsche Geschichte dazu:
Auch in Bhutan gibt es Gegenden, wo Menschen das Wasser von weit her holen müssen. Früher schöpften sie es in großen Schüsseln, die an eine Stange gehängt wurden. Diese über die Schultern gelegt, trugen sie das kostbare Nass nach Hause. Auch ein alter Mann tat so, nur hatte eine seiner Schüsseln einen Sprung und hielt nicht mehr dicht. Am Ende des langen Weges vom Fluss ins Dorf war sie nur noch halb voll. Dennoch behielt er sie weiterhin in Gebrauch.
Wenn Schüsseln reden könnten…
Ja, wenn! Dann würden wir hören, wie die makellose stolz von ihrer Leistung erzählt, täglich das volle Maß Wasser zu befördern. Sie ist mit sich zufrieden. Jedoch muss sie schon sehr den Kopf schütteln über ihre „Kollegin“: Wie kann man nur so unachtsam sein, sich einen Sprung zuzuziehen! Stöße, Erschütterungen und hartes Aufschlagen lassen sich doch vermeiden, wenn man auf sich aufpasst! – Und leise kritisch äußert sie sich auch über ihren Besitzer: Dass der so ein angemacktes Stück noch immer verwendet!
Entsorgen, weg damit!
Auf der anderen Seite schämt sich die beschädigte Schüssel, dass sie immer nur die Hälfte dessen, wofür sie gemacht war, verrichten kann. Der verflixte Riss! Aber das Leben strapaziert einen halt und hinterlässt Spuren… Nein, sie bringt‘s nicht mehr! – Kritisch spricht auch sie über ihren Besitzer: ‘Warum schmeißt er mich nicht fort?! Was hat er von mir? Dauernd Verlust, nur die halbe Leistung und dazu ‘nen krummen Gang! Wobei ich mich wundern muss, wie er die Schieflage unserer Stange ausgleicht. Trotzdem versteh ich’s nicht. Er ist doch nicht zu arm, sich ‘ne neue Schüssel zu kaufen. Macht es ihm nichts, dass alle den Kopf schütteln über ihn?
Eine Schande, mich schadhaftes Stück noch spazieren zu tragen!‘ – Das ging zwei Jahre lang so: erfüllte Zeit für die eine Schüssel, Zeit ständiger Zweifel für die andere. Endlich nahm diese ihren ganzen Mut zusammen und sagte dem alten Mann alles, was sie auf dem Herzen hatte…
Strahlendes Lächeln war die Antwort
‘Wie schade, dass du dich so quälst! Hast du nicht gemerkt, dass auf deiner Seite des Weges Blumen blühen, auf der Seite der makellosen Schüssel aber nicht? – Ich habe auf deiner Seite neben unserem Pfad Blumensamen ausgesät, weil ich mir des Sprungs – deines Fehlers, wie du meinst – bewusst war. Nun hast du täglich den Boden begossen, während wir nach Hause liefen, und die Saat ist aufgegangen. Zwei Jahre schon kann ich von den Blumen pflücken und unseren Tisch damit schmücken. Wärst du nicht genau so wie du bist, dann wäre diese Schönheit nicht entstanden und würde unser Haus beehren.‘
Diese Geschichte liefert „perfekte“ Argumente für eine „Kultur des fehlerfreundlichen Umgangs miteinander, wie’s ebenfalls im „Fachsprech“ heißt. Nix andres wär im übrigen christlich. So auch Bonhoeffers Credo:
„Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und dass es Gott nicht schwerer fällt, mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Gott kann selbst aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen, und will es tun.“
Bei mir. Bei dir. Bei allen seinen geliebten unperfekten Menschen.
Ihre Verena Engels-Reiniger