Gönn dir!
Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 17, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 17. August 2022)!
Gönn dir!
Liebe Leserin, lieber Leser,
»Wo soll ich anfangen? –
Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen. Denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir.
Ich fürchte, dass Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen, keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Stirn verhärtest; dass Du Dich nach und nach des Gespürs für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst.
Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit Deinen Beschäftigungen, als dass sie Dich ziehen und Dich nach und nach an einen Punkt führen, an dem Du nicht landen willst, wo das Herz hart wird.
Wenn Du ganz und gar für alle da sein willst, nach dem Beispiel dessen, der allen alles geworden ist (1 Kor 9,22), lobe ich Deine Menschlichkeit – aber nur, wenn sie voll und echt ist.
Wie kannst Du aber voll und echt Mensch sein, wenn Du Dich selbst verloren hast?
Auch Du bist ein Mensch. Damit Deine Menschlichkeit allumfassend und vollkommen sein kann, musst Du also nicht nur für alle anderen, sondern auch für Dich selbst ein aufmerksames Herz haben.
Denn was würde es Dir sonst nützen, wenn Du – nach dem Wort des Herrn (vgl. Mt 16,26) – alle gewinnen, aber als einzigen Dich selbst verlieren würdest?
Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben, dann sei auch Du ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig Du selbst nichts von Dir haben?
Wie lange noch bist Du ein Geist, der auszieht und nie wieder heimkehrt (vgl. Ps 78,39)? Wie lange noch schenkst Du allen anderen Deine Aufmerksamkeit, nur nicht Dir selbst? Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wem kann der gut sein?
Denk also daran: Gönne Dich Dir selbst. Ich sage nicht: tu das immer, ich sage nicht: tu das oft, aber ich sage: tu es immer wieder einmal. Sei wie für alle anderen auch für Dich selbst da, oder jedenfalls sei es nach allen anderen.«
Frei werden
In diesem Brief, den Bernhard (v. Clairvaux | 1091-1153) hier an Papst Eugen III. schreibt, seinen früheren Mitbruder, geht es um Achtsamkeit für sich selbst: Pass auf dich auf! – heißt es da. Entzieh dich von Zeit zu Zeit den täglichen Aufgaben. Mach Pause. Unterbrich für einen Augenblick, eine Stunde, einen Tag, oder wie lange auch immer deine Arbeit. – Wenn wir das tun, das tägliche Einerlei unterbrechen, kann der Blick wieder frei werden. Frei für die Menschen, die Natur, das Leben um uns herum.
Zeit schenken
Denn sich selber Zeit zu schenken, um zu tun, was gut für die Seele ist, ist dringend nötig. Andernfalls stellt sich das Gefühl ein, nur noch zu funktionieren. Wer folglich immer nur gibt, ohne, dass er/sie wieder ‘auftankt’, dessen ‘Akkus’ sind irgendwann leer – auf Kosten von Lebendigkeit und Kreativität.
Tun, was Freude macht
Wer dagegen immer wieder tut, was Freude macht, der/die hält Körper und Geist lebendig. Bereits ein unverzweckter Spaziergang lässt das spüren: Zeit haben für sich, Gedanken kommen und gehen lassen, sich ausruhen und die Seele baumeln lassen.
Aber: Wie geht das – immer wieder mal nur für mich selber da sein? Sind es doch der Gründe viele, sich selbst Zeit plus Aufmerksamkeit zu versagen: Alles liegen lassen? Das kannst Du jetzt doch nicht machen! Es ist noch jede Menge aufzuarbeiten. ‘Blau’ machen kannst Du jetzt nicht. Im Gegenteil: Du musst am Ball bleiben, denn sonst hältst du nicht mehr mit… Andere erwarten, so scheint es, dass ich präsent bin. Dabei ist etwas ganz anderes gefragt: Nämlich das, was das alte Wort Gelassenheit meint. Es geht also darum, lassen zu können. D.h., zwischen eigenem und fremdem Anspruch zu unterscheiden.
Sich bewußt werden
Bernhard rät hier, Termine nicht nur mit anderen, sondern auch mit sich selber auszumachen; und entsprechend, im Terminkalender ab und zu ein ‘Ich’ zu setzen. – Dann wird man Termine, aber v.a. sich selbst und sein Gegenüber wieder mit anderen Augen sehen und wahrnehmen.
In diesem Sinn wünsche ich uns einen freiheitsstiftenden, Zeit schenkenden, freudvollen, gelassenen und aussichtsreichen Sommer,
Raimund Miller
Impuls zum Artikel aus: www.impulstexte.de © Gisela Baltes. Danke an die Autorin für die Abdruckgenehmigung!