Selbstlos? Lieber nicht
Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 15, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 03. Juli 2024)!
Selbstlos? Lieber nicht
Liebe Leser, diesmal gibt‘s hier eine Diskussion um das Ideal der Selbstlosigkeit und eine Story mit Alternative dazu. Sie passt zum Sommer, der einlädt zu singen „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“, gerade auch Strophe 7: „Das Korn wächst auf mit starker Macht, darüber unser Herze lacht und rühmt die große Güte…“ Ja, wenn die Ähren so werden wie auf dem Bild!
Nur, es war Winter, als eine ehemalige Patientin mir die Geschichte schickte. Da fragte ich mich, hat sie was mit den Gesprächen zu tun, die wir während ihrer Reha-Zeit führten? Inzwischen ist mir klar, es geht um Selbstlosigkeit: ein Thema, das vielleicht auch Dich interessiert. Eins, das von den Reha-Gästen hauptsächlich Frauen in die Seelsorge mitbringen: nämlich Skrupel, ob es nicht zu egoistisch sei, sich ganz ums eigene Wohl zu kümmern. Nach schwerer Krankheit während der Rekonvaleszenz für Wochen, u.U. Monate vor allem nach sich selbst zu schauen. Also um sich zu kreisen?
Hinter solchen Skrupeln steht dieses angeblich hehre Ideal sogenannter Selbstlosigkeit. Es wird gepriesen bei Menschen, die mit großem Engagement von Katastrophen Betroffenen helfen. Die Angehörige pflegen, oft über Jahre. Sich für Benachteiligte einsetzen. ‘Ganz selbstlos!“ heißt es dann. Stimmt nicht! Gerade mit Deiner Persönlichkeit bist du für andere da. Mit Deinem Können, Deiner Lebenserfahrung, Deinen Begabungen kannst Du Wertvolles geben. (Zur Begabung kann auch eine finanzielle Ausstattung zählen, die Spenden ermöglicht, selbst wenn man dafür redlich geackert hat: Weil nur unter günstigen Bedingungen Tüchtigkeit sich auszahlt.) Fazit: Dein Potential steckt wesentlich in deinem „Selbst“. Deshalb ist „selbstlos“ einfach nicht der richtige Ausdruck. Bitte, …werd‘ bloß nicht dein Selbst los!
Natürlich, denkst Du vielleicht, weiß man doch, wie das „selbstlos“ gemeint ist: Dass man mit Hingabe für andere da ist, ohne Vorteile für sich draus ziehen zu wollen. Falls nötig, eigene Bedürfnisse hintanstellt. Für andere in Not sich ggf. auch strapaziert. Trotzdem finde ich Kritik am Wort „Selbstlosigkeit“ angebracht, denn oft ist dabei (Selbst-)Täuschung im Spiel. In der Seelsorge sprechen wir vielmehr von Selbstbewusstheit & Selbstachtung und sind damit an dem Punkt, der für Rehabilitand*innen wichtig ist. Sie müssen es teils regelrecht lernen, auf sich achtzugeben. Wieviel sie sich zumuten können und ab wann es ihnen über die Kraft geht. Es dient auf längere Sicht ja keine, wenn man sich altruistisch auspowert.
Achtzugeben gilt‘s auch darauf: Was treibt mich insgeheim an?
Sich bewusst zu machen, was einen motiviert, sich für andere einzusetzen. Ist es religiös, um bei Gott zu punkten? Oder um bei anderen angesehen zu sein? Oder um eine innere Leere zu übertünchen… Egal was, die Motivation wirkt sich aus auf die Art, wie man mit anderen umgeht. ABER !!! Selbstkritik an dieser Stelle bedeutet keinesfalls, dass soziales Engagement keinen Spaß machen dürfe, um echt altruistisch zu sein. Im Gegenteil! Wer hilft, kriegt in der Regel einiges zurück an Dank & Freude. Erlebt es als sinnvoll. Einsatz für andere trägt den Lohn schon in sich. Auch wenn man viel Zeit, Kraft & Geld reinbuttert, es erfüllt und befriedigt einen selbst. Das ist ganz im Sinne des Erfinders.
Hat er das bekannte Gebot doch auf Entsprechung angelegt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Schließlich bin ich zu Gottes Ebenbild geschaffen, wie alle anderen. Es soll uns ein Miteinander gelingen! Die Bibel sieht uns realistisch. Jeder schafft am besten, wenn er auch selber was davon hat Schon aus natürlichem Selbsterhaltungstrieb müssen wir gut für uns sorgen. Zur radikalen Entsagung und Selbstverleugnung braucht‘s eine Ausnahme-Berufung. Die (be-)trifft nur ganz wenige. Für uns Normalsterbliche gilt eine menschengemäße, praktikable Ethik. Z.B. die Goldene Regel, anders als das geläufige „Was du nicht willst, das man dir tu…“ positiv formuliert: „So wie ihr wollt, dass euch die Leute tun, so sollt Ihr ihnen tun“, sagt Jesus. Und Paulus: „Jeder soll nicht nur auf das bedacht sein, was ihm selbst, sondern auch darauf, was anderen zugutekommt.“ Selbstliebe und Nächstenliebe: in verschiedenen Lebenslagen immer neu die Balance dabei finden… Die Eigeninteressen in ein gerechtes Verhältnis mit denen der anderen bringen – zugegeben oft nicht leicht. Aber manchmal das einzig Senkrechte, wie in dieser Story:
Ein Landwirt hat sich ganz auf Getreideanbau verlegt. Besonders der Weizen gerät ihm Jahr um Jahr so gut, dass er regelmäßig für dessen hervorragende Qualität ausgezeichnet wird. Doch erstaunlicherweise verkauft er den benachbarten Bauern genau das Saatgut, das er selbst nutzt, zu einem günstigen Preis. – Im Herbst bei der Landwirtschafts-Messe wird er um ein Interview gebeten. Der Reporter hat sich informiert und fragt „Warum tun Sie das? So werden Ihre Nachbarn doch zu Ihren Konkurrenten!“ Der Bauer antwortet: “Das schon. Trotzdem geb‘ ich es gerne weiter, denn das kommt auch mir zugute. Wissen Sie, die jungen Weizenähren werden durch den Wind bestäubt. Würden auf den Feldern meiner Nachbarn minderwertige Pflanzen stehen, dann würde der Wind deren Pollen auch auf meine Felder tragend, und die Qualität meines Getreides würde sich verschlechtern. Es ist also absolut von Vorteil dafür zu sorgen, dass auch alle Nachbarn hochwertiges Saatgut anbauen! – Klasse Beispiel für Win-win! Lasst uns mehr Chancen dazu entdecken!
Ihre Verena Engels-Reiniger