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Die Zeichen sind da

Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 17, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 28. August 2024)!

Die Zeichen sind da

Bild, das reife Äpfel an einem Baum zeigt
Foto @ Karsten Paulick (kapa65) auf Pixabay

Schön, die Äpfel! Nur mag ich gar nicht hinsehn, wie sie täglich mehr Farbe auf die Backen kriegen. Und wie immer mehr gelbes Laub von den Zweigen fällt. Mehr rote Hagebutten, Mehlbeeren und Ebereschen aus dem sonst noch satten Grün hervorspitzen. Wie Pflaumen, Zwetschgen und Schlehen tief blau werden … Ja, ich mag’s nicht wirklich angucken, denn ich weiß: Vom heimischen Obst sind sie sozusagen das letzte Aufgebot! Wie bei den Gartenblumen die Dahlien und Astern: Nach ihnen gibt’s dieses Jahr keine neuen Blüten und Früchte mehr. Drum spür ich nur eins: Noch gar keine Lust auf Herbst!

Liebe Leserin, lieber Leser,

geht’s Ihnen auch so? – Nein, so heiß wie wir’s schon hatten, braucht‘s wirklich nimmer werden! Aber es soll bitteschön noch eine gute Weile Sommer sein! Denn der hat sich nach kühlem, oft verregneten Mai bis Juli erst arg spät genießen lassen. Und jetzt ist gleich  September…Die Natur nimmt einfach ihren Lauf, Wünschen und Beschwören hält sie nicht auf. Also, was tun?

Entschlossen über das hinwegsehen, was schon so herbstlich anmutet! Ausblenden, dass die Tage kürzer, die Abende kühler werden! Und sich an das halten, was grad so schön sommerlich ist. Gibt ja noch jede Menge Knospen, die aufblühen, und grüne Früchte, die Zeit zum Reifen brauchen. Das dauert. Da dürfen wir noch mit vielen Sonnentagen rechnen. Mit Blüten, Duft und wohliger Wärme.

Ist das ein Trost? Vielleicht vorläufig… Wer die Ernte an Früchten wie an schönen Sommererleb-nissen sorgsam einbringt, kann noch eine ganze Weile davon zehren. Trotzdem, das Jahr neigt sich unaufhaltsam. Der Sommer geht seinem Ende zu, und das Welken und Vergehen wird sich nimmer ausblenden lassen. Da hilft kein Wegschauen und kein Vertrösten. Immerhin – es braucht Zeit. Die Wandlung braucht Zeit. Vollzieht sich ganz langsam. Die Natur mutet selten krasse Abbrüche zu. In der Regel schafft sie sachte Übergänge.

Beim Älterwerden ist es ebenso: Das geht auch ganz allmählich vor sich. Die Natur lässt Zeit, sich darauf einzustellen. Wenn man mit den Kräften spürbar an Grenzen stößt, könnte das auch als ein Wink, als Einladung verstanden werden ’Du, nimm dir Zeit. Musst nicht ständig schaffen und machen. Öfter mal Pause, mehr Ruhe tut gut. Lässt Raum für Gedanken, die sich innen drin oft schon eine Weile anbahnen…

Zum Beispiel Gedanken über Veränderungen. Dass es gilt, sich von Manchem zu verabschieden … Das sollte man lieber freiwillig im eigenen Tempo als gezwungen abrupt tun. Sich auf sowas zu besinnen lässt klarer erkennen, was für einen dran ist. Lässt einen mit der Zeit  möglicherweise ahnen, dass Abschiednehmen nicht nur etwas Schweres ist. Und Sterben nicht furchtbar sein muss, wenn die Lebenszeit erfüllt ist. So, wie die Natur sich im Jahreslauf erfüllt, so kann der Mensch zur Erfüllung hin reifen.


Ganz wunderbar ist davon etwas zu spüren in der folgenden Geschichte von Johannes Gillhoff:

„Lieber Freund, ich bin sehr traurig in meinem Herzen. Letzte Woche hab ich meine Mutter begraben. Und da, bei meiner alten Mutter am Bett, ist all mein Arbeitskram von mir abgefallen wie ein fremdes Gewand. – Sie hat zu mir gesagt: Du musst dir Zeit lassen, Jürnjakob, dass du mal zur Besinnung kommst. Besinnung tut dem Menschen nötig, denn er ist nicht nur zum Arbeiten da.

Und dann sagte sie ganz leise, als wenn sie sich schämen tät: Jürnjakob, sagt‘ sie, du kannst mir mal nen Kuss geben. Mich hat lange keiner mehr geküsst. – So hab ich mich ganz sacht über sie gebeugt und sie geküsst. Und sie hat mir über die Backe gestrakt (gestreichelt), als wenn ich noch ihr kleiner Junge wär. – Dann legte sie sich zurück und war ganz zufrieden.

Ich sprach zu mir: Da liegt nun eine alte Frau und will sterben, und das ist deine Mutter. Und du hast sie im Leben nicht kennengelernt. Siehe, so lernst du sie im Sterben kennen. – So, sagte sie dann, nun lies mir was aus der Bibel vor. Ich las die Geschichte von Lazarus, wie Jesus diesen aus dem Grab auferweckt hat. – Lies noch einen Psalm, flüsterte sie. Da las ich Psalm 126: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, so wird uns sein, wie wenn Träume in Erfüllung gehen…

Ich überdachte ihr Leben, als es zu Ende ging. Ihre Augen waren groß und tief. Da lag schon etwas drin, was sonst nicht darin war. Da konnte man hineinsehen wie in einen tiefen See. Ich legte meine Hand dann sacht wieder auf die ihre, und wir warteten.

Dann sagte sie noch mal was:
„Ick wull, dat ich in’n Himmel wer,
mi ward die Tied all lang“
(Ich wollt‘, dass ich im Himmel wär,
mir wird die Zeit zu lang).
Als sie das gesagt hatte, drehte sie den Kopf so ’n bisschen zur Seite,
als wenn da wer kommen tät.
Und da ist auch einer gekommen.
Der hat sie bei der Hand genommen, und da ist ihre Seele ganz leise mitgegangen.
Richtig so, als wenn man aus einer Stube in die andere geht.
So ist sie nach Hause gegangen, als wie ein müdes Kind abends nach Hause geht.“
(aus: Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer)


Zeit um die Zeichen wahrzunehmen, Zeit für Zuwendung und Zärtlichkeit wünscht Ihnen,

Verena Engels-Reiniger