Samstag, April 27, 2024
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Anonym?

Gute Lektüre mit unserem Kurseelsorge-Artikel (in Ausgabe Nr. 19, der Bad Wurzacher Bürger- und Gästeinformation vom 14. September 2022)!

Anonym?

Liebe Leserin, lieber Leser,

vor kurzem hörten meine Familie und ich einen Radiobeitrag, in dem es um Anonymität ging. Darin wurde erzählt, dass ein Mensch etwas tun wollte, oder getan hatte – ohne dabei erkannt zu werden. Anonym eben. Meine Tochter setzte hinter dieses Vorgehen ein großes, gedankliches Fragezeichen. Derart, dass Menschen doch zu dem stehen müssten, was sie tun. Etwas tun oder sagen und sich dabei verstecken, das sei unfair und gehe nicht. Stimmt, haben wir geantwortet – und zugleich gemerkt, dass das so leicht nicht ist. Aber, wieso eigentlich?

Weil es von dem abhängt, worum es geht. Denn je nachdem, wie schwer oder leicht „etwas“ ist, fällt es schwerer oder leichter dazu zu stehen. Namentlich, also eben nicht a-nonym. Wenn es z.B. um (m)ein Leben geht, werden wir uns gut überlegen, ob wir offen zu etwas oder jemandem stehen (sollen). Denn dann wird es persönlich, ja sogar existentiell. Da will eine*r etwas zu einem Sachverhalt sagen, doch die andere Seite lässt sich nicht auf die Sache ein, sondern zielt direkt auf die Person.

Aktuelles Beispiel: Eine türkische Sängerin witzelt auf einem Konzert im April über und mit ihrem Show-Kollegen. Es geht dabei um die Schule, die er besucht hat, und ob diese wirklich gut für ihn war. Das Verrückte daran: Es ist eine „Sache“ zwischen ihr und ihm. Ob dieser Scherz wirklich gelungen war, sei dahingestellt. Er wurde jedoch Monate später als Video weitergeleitet. Was dazu führte, dass die Sängerin angezeigt, sowie schließlich am 25. August verhaftet und unter Hausarrest gestellt wurde. Wenn ich es richtig verstanden habe, ging es dabei sofort gegen ihre Person. Keine Frage danach, ob deren Witz in der Sache etwas Richtiges und Wichtiges getroffen hatte.

Eigenartig ist, dass sich gerade das Gefühl in mir breitmacht, hier festhalten zu müssen, dass ich nicht auf die Türkei abziele. Es ist Zufall, dass ich in der Süddeutschen Zeitung darauf gestoßen bin; während ich diese Zeilen geschrieben habe. Mir geht es um die Sache. Um die Frage, ob ich mich (noch) trauen würde, öffentlich über einen Sachverhalt zu sprechen, wenn ich – als Konsequenz – dafür ins Gefängnis käme? Gleichzeitig habe ich Bilder (aus Deutschland) im Kopf, wo Menschen Politiker*innen auf für mich unvorstellbare Weise beschimpfen, ja niederbrüllen. Aus der Masse heraus und damit anonym. Unsachlich, aber dafür sehr persönlich, bishin zu Todesdrohungen. Das Erschreckende daran: Ihnen passiert – nichts.

Wie kann das sein? Dort ein Mensch, der mit Namen für (s)eine Sache (ein)steht, deswegen persönlich angegriffen und weggesperrt wird. Hier namentlich unbekannte, anonyme Menschen, die schlicht nur gegen die Person(en) da vorne oder „oben“ wüten. Die Sache ist ihnen dabei egal. So z.B. geschehen beim Anliegen von Alfons Blum. Der damals 84-Jährige hatte im Mai 2020 eine Demonstration gegen die Corona-Auflagen besucht. Seit Wochen durfte er seine an Demenz erkrankte Frau nicht im Pflegeheim besuchen, er litt sehr darunter. Unter Tränen schilderte er einem Team von ARD-Extra seine Lage und wurde – vor laufender Kamera – von einem unbekannten Mann niedergebrüllt. Der Wüterich schrie Herrn Blum an, dass er die Kontrolle über sein Leben verloren habe, weil er das mache. Der ARD zuhören. Doch dieser widersprach: „Nein, absolut nicht. Man muss auch vernünftig bleiben.“

Mich erinnert das bisher Gesagte an Jesus und die Geschichte mit der sog. Ehebrecherin (Joh 8,1-11); sowie an seine eigene (Joh 19,1-15). – Da eine Frau, die für ihre Sünden „büßen“ soll, unabhängig von der Sache (um die es in Wirklichkeit gar nicht geht); was zumindest in der Jesusgeschichte von ihm mit Vernunft verhindert werden konnte. – Dort ein Mann, der ein wichtiges Anliegen hat und trotzdem niedergemacht wird. Herr Blum kam, Gott sei Dank, mit dem Schrecken davon. Jesus dagegen brachte das Toben der anonymen Menschenmenge ans Kreuz.

Doch das ist nicht der eigentliche Grund seines Endes. Sondern, dass Jesus den Bereich der Anonymität verlassen hat. In Lukas 9,21 befiehlt er seinen Jünger*innen noch nachdrücklich niemandem zu sagen, wer er ist – nämlich der Messias, ja mehr noch, Gottes Sohn! D.h., er will anonym bleiben. Also unbenannt, ohne diesen Namen. Dreizehn Kapitel später bekennt er Farbe. Weil es sein muss. Für DIE „Sache“. Also uns! D.h. für alle Menschen die waren, sind und noch sein werden: »Ich bin es.« Der Sohn Gottes (Lk 22,70). Die Verbindung zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde. Damit ihr das Leben habt. In Fülle und in Ewigkeit (Joh 10,10 und 11,26).

Aber was bedeutet das jetzt für uns? Insbesondere für alle, die mit dem Wort „Christ*in“ Jesu Namen tragen und folglich in diesem Sinn nicht mehr anonym sind?! – Dass wir zu dem stehen, was wir sagen oder schreiben. Namentlich. Und nicht anonyme Briefe schicken, wie kürzlich z.B. aus Rom geschehen. Denn so entsteht nur Verunsicherung sowie der Eindruck, wie ihn Bischof Felix Genn aus Münster formuliert hat: „Was ich bei einigen vermisse, ist die Bereitschaft, sich wirklich darauf einzulassen, … die Meinung des anderen zu retten. Wer nicht direkt miteinander kommuniziert, sondern … sehr kritisch über andere spricht, hat aus meiner Sicht wenig von Synodalität verstanden.“

Bischof Genn hat hier das Miteinander innerhalb der katholischen Kirche im Blick. Was er sagt, empfinde ich als stimmig. So sehr, dass ich denke, es kann ganz grundlegend gesagt werden: Wir sind als Menschen miteinander (= syn) auf dem Weg (= odos). Im Großen und Kleinen. Das funktioniert allerdings nur, wenn wir uns offen aufeinander einlassen und untereinander austauschen. Anonym ist das eher schwierig. – Gleichwohl weiß ich, dass Anonymität auch Schutz bedeutet. Für Viele(s) braucht es einen geschützten Raum. Weil Offenheit eben auch persönliche Angriffe zulässt, wo Mitgefühl und Interesse nötig wären. Diese Angst ist leider berechtigt und wem das widerfährt, bleibt lieber anonym. Das ist verständlich.

Es gibt jedoch auch „Dinge“, da verstehe ich nicht, wieso sich eine*r hinter der Anonymität verbirgt; weil es keines Schutzes bedarf, da Niemandes Leben in Gefahr ist; die aber ein Miteinander schwermachen. So ähnlich wie in folgender Geschichte aus Paul Watzlawicks Buch „Anleitung zum Unglücklichsein“: Ein Mann braucht einen Hammer, um ein Bild aufzuhängen. Der Nachbar hätte einen. Aber anstatt diesem sein Problem zu schildern, belässt der Mann es anonym und denkt sich alles Mögliche zusammen (was der andere wohl denken könnte). – Bis er innerlich explodiert, zu seinem Nachbarn stürmt, klingelt und ihn anschreit, als der öffnet: »Behalten Sie ihren Hammer, Sie Rüpel!«

Deshalb will ich uns hiermit ermutigen, einzustimmen in das, was Clemens Bittlinger in seinem Lied „Aufstehn, aufeinander zugehn“ singt: Dass wir es wollen, „voneinander lernen, miteinander umzugehn. Aufstehn, aufeinander zugehn und uns nicht entfernen, wenn wir etwas nicht verstehn.“

Raimund Miller, Kurseelsorge