Donnerstag, November 20, 2025
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Augenblick mal

Bild zeigt Stift, mit dem etwas geschrieben wirdAugenblick mal 

… wörtlich gemeint: Hingucken! Und zwar draußen. Genieß die letzten Farben des Sommers, das Aufleuchten von Blättern, die ausgerechnet im Welken, im Schwinden besonders schön werden. Denn bald fallen sie ab, fetzt der Wind sie von Bäumen und Büschen. Hie und da grüßen noch Blumen wie zum Abschied vor dem Winter. Also, nimm Sonnenschein und Schönheit nochmal wohlig in dich auf, bevor es dunkelt, immer früher jetzt. Ist nimmer heimelig draußen.

Manchen Menschen wird dadurch die Vergänglichkeit besonders bewusst. Zumindest wenn man älter wird. Immer mehr Leute, die einem etwas bedeuten, vermisst man. Im Lauf des Jahres, das sich dem Ende zuneigt, sind aus meinem Lebenskreis sechs gegangen: Freunde und Kollegen, die ein Stück meines Wegs geteilt und mich geprägt haben. Denen ich Wesentliches verdanke.

Liebe Leserin, lieber Leser, es heißt oft, in unserer Zeit würde der Tod verdrängt. Das stimmt wohl einerseits. Andererseits gibt‘s zahlreiche Buchveröffentlichungen, sinnige Bildkarten und Kalendersprüche zum diesem Thema. Auch sind nicht wenige Menschen bereit, andere beim Sterben zu begleiten, und arbeiten über viele Jahre in Hospizgruppen mit. Und immer mehr legen für sich eine Patientenverfügung fest, regeln ihre Angelegenheiten. Das zeigt doch eine Bereitschaft, ja, ein deutliches Interesse, sich mit dem Lebensende zu befassen. Über die Endlichkeit allen Daseins nachzudenken.

Bild, das die Zahl 8 zeigt, liegend, als Zeichen für Unendlichkeit. Dahinter steht das englische Wort GOD
Bild von John Hain, kostenlos aus Pixabay

Gut so. Sogar sehr gut, wenn man Schlüsse draus zieht, die einen bewusster leben und die Zeit sinnvoll nutzen lassen. In der Frist, die einem auf Erden zugemessen ist. Deren Dauer man nicht oder selten weiß. „Carpe Diem – pflücke den Tag“ rät ein römischer Philosoph. Und noch dringlicher „Memento Horae“ von Horaz:

Bedenke, was die Stunde geschlagen hat, denn rasch kann kommen der Tod.

Das ist, ungeschminkt ausgedrückt, Tatsache. Ganz konkret im Lied „Später“ von Monika Morell aus den 70er Jahren: „Ihr kennt ihn alle, er wohnt Tür an Tür, später, so sagte er immer zu mir, später, wenn er reich ist, dann will er leben …Später, da wolle er glücklich sein… Später?! Wann ist das?“ hab ich ihn gefragt. Er hat nur gelacht und „Später“ gesagt. Nun hab ich es in der Zeitung gelesen: Später, das ist für ihn gestern gewesen…“ Treffend und traurig gesagt: Es „rechnet“ sich überhaupt nicht, die wichtigen Dinge des Lebens aufzuschieben. Es gilt, JETZT zu leben.

Warum nicht, wo immer möglich, nach dem genialen Motto von Barny Bitterwolf leben, dem oberschwäbischen Barden: „Frai de heit! Sonschd hosch morga a oagnehms Geschdern“ – Freu dich heut, sonst hast du morgen ein unangenehmes Gestern“. Also aufgepasst, was sich an Lebensfreude gewinnen lässt, an erfüllter Zeit. Für dich selbst und für andere. Diesen Tag, diese Stunde – ja, diesem Augenblick! Wer das mit einem bekannten Vers beherzigen mag:

Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen. Mein sind die Jahre nicht, die etwa mögen kommen. Der Augenblick ist mein, und nehm‘ ich den in Acht, so ist Der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht. Andreas Gryphius 1635

Ist das nicht ein kühner Gedanke, dass sich Gott im Jetzt erleben lasse? Im Augenblick gegenwärtig sei? Wäre d i e Chance. Um sie zu ergreifen, bräuchte es Geistesgegenwart. Oder, wie man heute wohl eher sagen würde: Achtsamkeit. Wirklich präsent zu sein. Das Hier und Jetzt wach wahrzunehmen und zu gestalten.

Einen Schritt weitergedacht, sofern Sie religiös orientiert sind: Es würde bedeuten, dass man sowohl im Diesseits als auch „das Diesseits überschreitend“ leben kann, gleichzeitig. Anschaulich hat das der berühmte Mystiker Angelus Silesius beschrieben:

Zwei Augen hat die Seel. Eins schauet in die Zeit, das ander‘ richtet sich hin in die Ewigkeit.

Offenkundig glaubt Silesius nicht nur, solche „Doppelsichtigkeit“ sei menschenmöglich. Sondern, sie sei die uns Menschen gemäße Daseinsweise. Alle sind schließlich beseelt. –

Und noch ein Schritt: Dann würde das Leben diesseits der Todesgrenze seinen Sinn und seine Leuchtkraft aus dem Jetzt der Ewigkeit gewinnen. Spannend. Geradezu genial eine Strophe von Marie Schmalenbach (1835 – 1924, Pfarrersfrau und Dichterin in Westfalen):

Ewigkeit, in die Zeit leuchte hell hinein! Dass uns kleiner werd‘ das Kleine und das Große groß erscheine – selige Ewigkeit.

Die Worte lassen ahnen, welche Chance darin liegt, sozusagen irdisch und ewig gleichzeitig da zu sein. Und damit dem näher zu kommen, was manche wohl als geflügeltes Wort kennen:
„Mensch, werde wesentlich!“ Hier das ganze Gedicht, abermals von Angelus Silesius:

Mensch, werde wesentlich! Der Zufall muss davon und auch der falsche Schein. Du musst ganz wesentlich und ungefärbet sein. Mensch, werde wesentlich! Denn wenn die Welt vergeht, so fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.

Eine gute Devise,
meint Verena Engels-Reiniger


Artikel der Kurseelsorge in Ausgabe Nr. 22 von „Bad Wurzach Natürlich. Informativ“ vom 08. November 2025